Am 30. Mai 1942 wurden 86 Personen aus dem Stadt- und Landkreis Hanau von der Ordnungspolizei und der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) über Kassel in den sogenannten Distrikt Lublin deportiert. Am Hanauer Hauptbahnhof hielt der Leiter der Hanauer Stadtbildstelle und Lehrer Franz Weber die Verschleppung in 19 Schwarz-Weiß-Bildern fest.
Sie zeigen wartende Jüdinnen und Juden mit ihrem Gepäck, ihrem letzten Besitz, in Mitten von Hanauer Bürgerinnen und Bürgern, Reisenden, Fronturlaubern, Polizisten sowie den Organisatoren der Deportation.
Erstmals 1978 vom Hanauer Geschichtsverein 1844 e.V. veröffentlicht wurden sie zu einer wichtigen visuellen Quelle der Stadtgeschichte sowie der Deportationen aus dem Deutschen Reich. Sie zählen zum Bestand des Medienzentrums Hanau / Bildarchiv.
Anlässlich des 83. Jahrestages der Deportation werden die Fotografien in besonderer Form veröffentlicht: In der Onlinesammlung des Projekts #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen, dem so genannten Bildatlas, liegen sie in sorgfältig recherchierter und punktgenau annotierter Form vor. Nutzende erhalten niedrigschwellig Informationen über die Bilder und die Abgebildeten direkt an bzw. über ein Click auf die Bilder (Bildatlas: atlas.lastseen.org).
Das Projekt führt seit 2021 alle Fotografien der NS-Deportationen von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie der Opfer der NS-„Euthanasie“ zusammen, um sie wissenschaftlich zu erschließen und auf diese Weise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit Hanau ist die Liste der Orte, aus denen Deportationsfotografien im Bildatlas zu finden sind auf 38 angewachsen, weitere Bildserien werden in den kommenden Monaten publiziert.
„Die Aufnahmen aus Hanau stechen in besonderer Weise hervor: Sie zeigen, wie Nachbarn Nachbarn vor den Augen der Nachbarn deportierten.“ So ordnet Projektleiterin Dr. Alina Bothe die Bilder ein.
Oberbürgermeister Claus Kaminsky betont die Wichtigkeit des Online-Projekts ob seiner umfassenden Informationen, die nun weltweit im Internet abgerufen werden können. Mit dem Bildatlas erhalten auch die deportierten Hanauerinnen und Hanauer ein Gesicht. Die Fotografien der industriellen Massenermordung fordern eindrücklich auf zum Engagement gegen Antisemitismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Neben der Zusammenführung aller bisher von Hanauer Forschenden erarbeiteten Informationen über die Deportation und die Bildserie, konnte das Forschungsteam von #LastSeen eine weitere abgebildete Person identifizieren: Der elfjährige Lothar Weingarten war das Kind von Hertha geb. Stiefel und dem Lehrer Julius Weingarten. Dieser unterrichtete an der Jüdischen Gemeindeschule Hanau und war der Kantor der Gemeinde. Mit seinen Eltern und seiner sieben Jahre älteren Schwester Hedwig wurde Lothar im Juni 1942 ins besetzte Polen deportiert. Während sein Vater höchstwahrscheinlich mit den anderen arbeitsfähigen Männern zur Zwangsarbeit im KZ Majdanek selektiert wurde, verschleppte die Gestapo Hertha, Hedwig und Lothar Weingarten direkt ins Vernichtungslager Sobibor. Sofort nach der Ankunft ermordete die SS mit ihren Helfern die junge Familie. Und auch von den weiteren 83 Deportierten aus Hanau und Umgebung überlebte nur eine Person: Robert Eisenstädt konnte aus dem KZ Majdanek fliehen und legte später Zeugnis über die Verschleppung der Jüdinnen und Juden aus Hanau ab. Ein Videointerview mit ihm befindet sich heute im Bestand des Visual History Archives der USC Shoah Foundation in den USA.
#LastSeen: Bilder der NS-Deportationen ist ein Verbundprojekt der folgenden Partner: Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, USC Dornsife Center for Advanced Genocide Research, Public History München, Gedenkstätte Hadamar, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Arolsen Archives.
Für den Newsletter des Projekts können sich Interessierte hier anmelden: https://www.lastseen.org/newsletter
Bildatlas: atlas.lastseen.org
Game: game.lastseen.org
Pressekontakt: Ute Wolf
Bild: Abtransport_derJuden_nachKassel_1942
© Medienzentrum Hanau / Bildarchiv / Franz Weber
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Quelle: Redaktion MKK Echo